Krankenversicherungsdaten zeigen alarmierendes Ausmaß der Sepsis-Langzeitfolgen

Bei Sepsis gilt die Aufmerksamkeit oft der Sterblichkeit, und tatsächlich ist diese mit etwa 25% erschreckend hoch. Eine neue Studie rückt nun die Überlebenden in den Fokus: Die Analyse zeigt, dass drei von vier Sepsis-Überlebenden an Langzeitfolgen leiden, etwa Gedächtnisstörungen oder seelische und körperliche Erkrankungen. Selbst in der Gruppe der unter 40-Jährigen leidet mehr als die Hälfte der Überlebenden an Folgeerkrankungen. Insgesamt offenbaren die Daten einen jahrelangen Behandlungs- und Pflegebedarf, für den es noch keine passenden Angebote gibt.

Für die jetzt im Fachjournal JAMA Network Open publizierte Studie arbeiteten Forschende der Charité – Universitätsmedizin Berlin, des Universitätsklinikums Jena (UKJ) und des Wissenschaftlichen Instituts der AOK zusammen. Dem Studienteam gelang es, aus anonymisierten Gesundheitsdaten der AOK 159.684 Versicherte herauszufiltern, die in den Jahren 2013 oder 2014 wegen einer Sepsis im Krankenhaus behandelt wurden. Die Zahl der analysierten Fälle ist beeindruckend hoch: Insgesamt werden in deutschen Krankenhäusern pro Jahr etwa 320.000 Sepsis-Fälle behandelt. Bei den 159.684 analysierten Personen wurden neben Vorerkrankungen auch die Diagnosen erfasst, die in den drei Jahren nach der Sepsis neu auftraten, sowie der daraus resultierende Behandlungs- und Pflegebedarf.

In Bezug auf die neu aufgetretenen Diagnosen suchte das Studienteam „nach neuen körperlichen, psychischen und kognitiven Einschränkungen, wie sie bekanntermaßen als Folge einer Sepsis auftreten können – etwa Herz-Kreislauf-Erkrankungen, kognitive oder motorische Störungen, das Erschöpfungssyndrom Fatigue oder Depressionen“, so die Projektleiterin Dr. Carolin Fleischmann-Struzek vom Zentrum für Sepsis und Sepsisfolgen (CSCC) am UKJ. Bereits für das erste Jahr nach der Entlassung aus dem Krankenhaus sind die Zahlen erschreckend: Bei etwa 75% der Sepsis-Überlebenden kam eine neue Diagnose hinzu, selbst in der körperlich fitteren Gruppe der unter 40-Jährigen waren dies noch mehr als 56%. Und: Mehr als 30% der Überlebenden verstarben noch im ersten Jahr.

Die Seniorautorin der Studie, Prof. Dr. Christiane Hartog ist Versorgungsforscherin an der Klinik für Anästhesiologie mit Schwerpunkt operative Intensivmedizin der Charité. Sie weist auf die besondere Härte der Langzeitfolgen hin: „Psychische, kognitive und körperliche Folgen betreffen die Mehrzahl der Überlebenden und treten sogar häufig gemeinsam auf, was für die Betroffenen eine besondere Belastung ist.“ Doch die Daten decken laut Prof. Hartog noch einen weiteren überraschenden Aspekt auf: „Erstaunlicherweise macht es nur einen geringen Unterschied, ob die Sepsis weniger schwer verlief oder ob sie auf der Intensivstation behandelt werden musste.“ Das bedeutet, dass belastende Langzeitfolgen auch nach einem relativ leichten Verlauf auftreten können.

Adaptierte Grafik zu den Langzeitfolgen einer Sepsis
Übersicht über die prozentualen Anteile von an einer Sepsis erkrankten Personen, die ein Jahr nach der Entlassung aus dem Krankenhaus neu hinzugekommene Beschwerden entwickelten. Die Einschränkungen können körperlicher, psychischer oder kognitiver Natur sein. Oftmals leiden Menschen auch unter Kombinationen: So leiden 3,8 Prozent der Personen, die eine Sepsis überlebt haben, sowohl an körperlichen, psychischen und kognitiven Einschränkungen. Ausgewertet wurden die anonymisierten Krankenversicherungsdaten von 116.507 Personen. Adaptiert nach: Fleischmann-Struzek, C., Rose, N., Freytag, A., Spoden, M., Prescott, H. C., Schettler, A., Wedekind, L., Ditscheid, B., Storch, J., Born, S., Schlattmann, P., Günster, C., Reinhart, K., & Hartog, C. S. (2021): Epidemiology and Costs of Postsepsis Morbidity, Nursing Care Dependency, and Mortality in Germany, 2013 to 2017. JAMA network open, 4(11), e2134290. https://doi.org/10.1001/jamanetworkopen.2021.34290

Das Studienergebnis unterstreicht nach Meinung der Autorengruppe wie wichtig es ist, eine Sepsis wirklich frühzeitig zu erkennen und zu behandeln. Gesamtgesellschaftlich relevant sind auch die Behandlungskosten: Das Studienteam errechnete hier für die ersten drei Jahren nach Erkrankung eine Summe von 29.000€ pro Fall. Mehr als 30% der Sepsis-Überlebenden wurden im ersten Jahr nach der Entlassung neu pflegebedürftig, nach einem schweren Verlauf mussten sogar mehr als 13% neu in einem Pflegeheim betreut werden. Das Autorenteam stellt hier fest, dass es kaum angepasste Nachsorgemaßnahmen gibt: Nur 5% der Sepsis-Überlebenden werden in eine Rehabilitationseinrichtung entlassen. „Die Sepsis hat massive und langjährige Folgen – sowohl für Überlebende und ihre Angehörigen als auch für das Gesundheitssystem. Deshalb bedarf es spezifischer Nachsorgekonzepte für die Sepsis“, betont Dr. Fleischmann-Struzek.

Die aus den Gesundheitsdaten der AOK hervorgegangenen Zahlen sind bereits erschreckend hoch. Am Ende ihrer Studie weist das Autorenteam jedoch darauf hin, dass in der Realität höchstwahrscheinlich noch mehr Menschen an einer bzw. einer Kombination von Langzeitfolgen leiden. Der Hintergrund dieser Unterschätzung ist, dass eine erhebliche Unterdokumentation der Langzeitfolgen in der Datenerfassung der Krankenhäuser (für die Kostenerstattung) sehr wahrscheinlich ist. Zudem ist davon auszugehen, dass insbesondere die psychischen Langzeitfolgen nicht ausreichend erfasst wurden.

Die Studie wurde vom Gemeinsamen Bundesausschuss mit Mitteln des Innovationsfonds gefördert.

Originalpublikation: https://jamanetwork.com/journals/jamanetworkopen/fullarticle/2786030