Lukas‘ Mutter erzählt vom Kampf ihres Sohnes gegen Sepsis

Ich konnte mein Kind weder schützen noch retten.

Dies hat mich tief gebrochen. Doch ist mir Aufklärung und Schutz weiterer Betroffener ein großes Anliegen in Gedenken an mein geliebtes Kind Lukas! Lukas wollte leben…

Lukas war ein äußerst sportlicher Junge, der aufgrund seiner persönlichen Krankenerfahrung bestrebt war, Arzt zu werden. Er war mehr als strebsam und fleißig. Ein fröhlicher Teenager, der nur drei Tage vor seinem 16. Geburtstag an einer fulminant verlaufenden Sepsis verstarb. Er erkrankte aus dem völligen Wohlbefinden heraus. Einen Tag zuvor hatte er noch ein Fußballturnier gepfiffen.

Zur Vorgeschichte der Asplenie (Fehlen der Milz)

 

Lukas verlor als 2-Jähriger, bedingt durch ein Verbrennungstrauma mit abdominellem Kompartmentsyndrom, 2004 seine Milz. Mit schweren Komplikationen kämpfte Lukas sich in den folgenden Monaten ins Leben zurück. Entlassen wurde Lukas im August 2004 mit Penicillinprophylaxe täglich und parenteraler Ernährung bis April 2005.

Bis zu diesem Zeitpunkt war uns die ständige Gefahr einer Sepsis und weiterer Komplikationen sehr bewusst (wegen des Katheders zur dauerhaften parenteralen Ernährung). Spätestens mit der Einschulung gab es jedoch keine weiteren Einschränkungen mehr. Lukas‘ Entwicklung ging rasant bergauf.

Er gehörte zu den besten Schülern in der Klasse – einfach, weil er unglaublich strebsam, fleißig und kämpferisch war. Er liebte den Fußball, war aktiver Spieler im Verein und aufstrebender Jugendschiedsrichter. Einen Tag vor seinem Tod pfiff Lukas noch ein ganzes Turnier….

Kein Hinweis von ärztlicher Stelle auf lebenslange OPSI-Gefahr

 

Im Rahmen von Vorsorgeuntersuchungen wurde Lukas gegen Meningokokken C und Pneumokokken geimpft. Es fanden insbesondere regelmäßige Untersuchungen der Verbrennungsnarben durch die Verbrennungschirurgie und Blutkontrollen zur Vermeidung von Unterversorgung bei Kurzdarmsyndrom statt.

Über besondere Schutzmaßnahmen und Risiken bei Asplenie wurden wir nicht informiert. Die Asplenie findet sich nur als Bemerkung im Entlassungsbericht mit Anweisung zur Penicillinprohylaxe in den folgenden 2 Jahren. Keine weiteren Eintragungen ins U-Heft, keine zusätzlichen Schulungen, kein Notfallausweis. Nie hatte mir jemand das OPSI („Overwhelming Post Splenectomy Infection Syndrome“ – eine Sepsis infolge operativer Milzentfernung) erläutert. Mir wurde zwar beiläufig erklärt, Lukas sei anfälliger für Infekte, dass diese aber binnen kürzester Zeit sogar tödlich verlaufen können, das wurde nie erwähnt. Nicht bei den Vorsorgeuntersuchungen beim Kinderarzt, nicht bei der Nachsorge in der Verbrennungschirurgie und auch nicht in der Kinderklinik.

Insbesondere da Lukas sich so prächtig entwickelte, gerieten mögliche Gefahren komplett in Vergessenheit. Kontrollzyklen wurden mit Lukas‘ Heranwachsen größer. Alle freuten sich mit uns über unseren starken Kämpfer. Seit 2008 bekam Lukas keinerlei Medikamente mehr. Er war im Vergleich zu seinen Geschwistern nicht empfindlicher oder infektanfälliger. Wunder geschehen war unser Programm – jeden Monat, jeden Tag.

Der 28. September 2017 ändert alles

 

Der Horror kam aus dem Nichts. Noch am 27.09. pfiff Lukas über mehrere Stunden ein ganzes Jugendfußballturnier. Am 28.09. ging Lukas wie gewohnt zur Schule, keinerlei Infektanzeichen, Unwohlsein etc. Um 13:00 Uhr kam er in der Pause nach Hause essen. Er aß mit großem Appetit.

Obwohl Lukas eigentlich noch 2 Stunden Unterricht hatte, kam er um 14:30 Uhr weinerlich nach Hause. Er klagte über Kopfschmerzen und Schmerzen in den Beinen. Da in der Schule und auch in der Familie diverse grippale Infekte unterwegs waren, dachte ich mir nichts. Körpertemperatur war 38,5° C. – wobei Lukas‘ Rücken sich subjektiv für mich viel heißer anfühlte.

Mit Ibuprofen legte ich Lukas ins Bett. Er solle sich ausruhen. Wenn es am anderen Tag nicht besser wäre, würden wir morgens gleich zum Arzt gehen. Die Temperatur ist unter Ibu auf 37,5 °C zurückgegangen. Lukas war sehr schläfrig. Mein Freund meinte noch, ich solle ihn sich gesund schlafen lassen. Aber ich hatte irgendwie ein komisches Gefühl, konnte es aber nicht beschreiben. Mir fehlten die klassischen Erkältungssymptome wie Husten und Schnupfen. Im Laufe des Tages weckte ich Lukas mehrfach, um ihn ein paar Schlucke trinken zu lassen. Lukas schlief stets sofort wieder ein. Ich war unruhig, hätte nicht schlafen gehen können – konnte mir nicht erklären, was Lukas fehlte.

Bei der Temperaturkontrolle abends und weiteren verstärkten Beschwerden über Kopfschmerzen war Lukas kalt schweißig, hatte einen schnellen Puls von ca. 130. Also brachte ich Lukas um 22:30 Uhr ins Krankenhaus und hatte noch Angst, die Ärzte mit einem grippalen Infekt zu belästigen und weggeschickt zu werden.

Zunächst sollte sich auch meine Befürchtung bestätigen, die junge Ärztin fragte, warum wir nicht am anderen Tag zum Kinderarzt gingen. Ich erklärte, dass ich es mittags noch für einen grippalen Infekt gehalten hätte, nun aber Angst bekam. Lukas Zustand habe sich in den letzten Stunden merklich verschlechtert und ich könne die Symptome nicht einordnen.

Ärztin in der Notaufnahme erkennt Notfall nicht

 

Da wir nie auf Asplenie sensibilisiert worden sind, gab ich dies auch an dieser Stelle noch nicht an. Lukas sah zu diesem Zeitpunkt blass aus, gräulich. Auch einen Ausschlag sah ich, aber die Ärztin wiegelte ab und erklärte, das sei Akne. Ich konnte das nicht glauben, schließlich sehe ich mein Kind jeden Tag. Die Ärztin meinte, es käme daher, weil Lukas insgesamt gräulich sei. Auf dem Rücken waren es für mich deutlich dunkel lila Flecken.

Doch die Ärztin negierte weiterhin einen Ausschlag. Der Blutdruck wurde gemessen – extrem niedrig (RR 50/30), Puls schnell (135), kaltschweißig. Die Ärztin fragte Lukas mit zuckersüßer Stimme, was er genommen habe, er könne ihr vertrauen. Die Krankenschwester pflichtet bei der Blutdruckkontrolle bei – „Der hat bestimmt was genommen!“.

Lukas wurde wütend und verzweifelt, weil er sich nicht ernst genommen fühlte. Und Lukas, er war immer viel zu lieb, viel zu strebsam – ich glaube das nicht! Dies versuchte ich auch sehr deutlich der Ärztin klarzumachen. Da sie Lukas jedoch ohnehin auch unter diesen Umständen zur Überwachung stationär aufnehmen wollte und Blut abnahm, gab ich zunächst bei.

Obwohl die Ärztin Lukas‘ Thorax abhörte, das Abdomen abtastete, fragt sie nicht nach den Vorgeschichten der unzähligen Narben auf Lukas‘ Bauch von Laparotomie (Eröffnung der Bauchhöhle) und mehreren Stomata. In diesem Moment fragte ich nach, ob Vorgeschichten des Darms etc. eine Rolle spielen könnten. Außerdem gab ich an, dass Lukas keine Milz mehr hat. Da ging sie mit dem Telefon raus, erste Unruhe tauchte auf.

Aber die Ärztin blieb noch skeptisch – ich hörte, wie sie am Telefon angab: angeblich keine Milz mehr – dabei erzählte Lukas‘ Bauchdecke eigentlich alles. Es war bereits 23:30 Uhr, als wir auf Station kamen. Wieder gab ich an, dass sich ein Ausschlag entwickelte und erstmals sagte die Ärztin, dass Lukas sehr schwer krank sei. Gleichzeitig kamen auch erste Laborergebnisse – und damit die sofortige Verlegung auf die Intensivstation!

Septischer Schock und Zusammenbruch des Gerinnungssystems

 

0:00 Uhr Ankunft. Wir wurden von einer Schwester mit zusätzlichem Schutzkittel und Mundschutz erwartet. Für mich nicht unbedingt ungewöhnlich auf der Intensivstation. Die Schwester ließ sofort den Oberarzt verständigen und sagte im selben Satz, dass auch Herr H. verständigt werden möge – der Seelsorger. Die Oberärzte wurden gerufen und trafen wenig später ein. Es wurden weitere Ärzte und Schwestern angefordert. Langsam begann ich zu realisieren, dass hier mit harten Bandagen um das Leben meines Kindes gekämpft wurde.

Ich kam doch mit einem grippalen Infekt, wollte eigentlich die Versicherung bekommen, beruhigt schlafen zu gehen. Mein Kind war doch gerade noch kerngesund? Zeitweise standen 4-6 Ärzte am Bett. Mehrere Schwestern zogen unglaublich viele Spritzen auf. Per Hand wurden diese unglaublich vielen Spritzen in Lukas gesetzt (Antibiose, Volumentherapie, Vasopressoren, Blutplasma, aktiviertes Protein C …).

OPSI mit Komplikation des Waterhouse-Friderichsen-Syndroms

 

Die Ärzte gingen zuerst von einer Meningokokkensepsis aus. Kaum 30 Minuten nachdem mit der Behandlung begonnen wurde, musste Lukas beatmet werden. Beim Legen des Zentralen Venenkatheders fragte Lukas den Arzt, ob er jetzt sterben müsse… 2 Stunden später verstarb Lukas an Herzversagen. Inzwischen war er tiefschwarz verfärbt, die Hauteinblutungen waren stark ausgeprägt.

Diese Einblutungen bezeichnet man als Purpura fulminans, das sind fleckige bis flächenhafte Hauteinblutungen; deutliche Anzeichen des Waterhouse-Friderichsen-Syndroms. Drei Tage später wurde Streptococcus pneumoniae nachgewiesen, Serotyp 23B; in keiner Impfung enthalten.

Oft gehe ich diesen Tag durch: Frage mich, an welcher Stelle ich mein Kind hätte retten können. Wann hätte ich die Sepsis erkennen und von einem normalen Infekt abgrenzen können? Lukas hatte mittags lediglich erhöhte Temperatur – die von ihm erwähnten Kopf- und Beinschmerzen habe ich als Kopf- und Gliederschmerzen fehlinterpretiert. Schmerzen in den Beinen (dann bis in den Rücken) waren Anzeichen des Nierenversagens und der Zerstörung der Nebennieren. Und doch war dies für mich keinesfalls erkennbar. Er war doch gerade noch fit, noch in der Schule, gestern noch Fußballspielen etc. Und dass er schläfrig war, kam doch bei fiebernden Infekten häufig bei ihm vor. Er war ansprechbar, bis zur Sedierung jederzeit komplett orientiert.

Den qSOFA-Score kannte ich leider nicht!
Wenn mindestens zwei der drei folgenden Kriterien erfüllt ist, liegt ein Verdacht auf eine Sepsis vor:
Ø Atemfrequenz ≥ 22/min
Ø Systolischer Blutdruck ≤ 100 mmHg
Ø Bewusstseinsveränderung

Hätte ich mit diesem Schema den Notfall früher erkannt? Warum werden Eltern nicht angeleitet, auf Atemfrequenz und Puls zu achten? Blutdruck zu messen? Selbst als ich um 22:30 Uhr in die Klinik fuhr, hatte ich nicht erfasst, dass mein Kind todkrank ist. Ich hatte Angst und wollte eigentlich beruhigt werden. So setzte ich mich auch nichtsahnend und wartend in die Notaufnahme. Zu diesem Zeitpunkt war offensichtlich ohne Laborparameter der tödliche Notfall nicht erkennbar. Lukas ist sehr sportlich und fit gewesen. Nur so ist erklärbar, dass er bereits im septischen Schock die Symptome teilweise kompensiert (eher überkompensiert) hat, und noch auf eigenen Füßen in die Klinik ging.

Als wir um 22.30 Uhr in die Klinik kamen, war Lukas nicht mehr zu retten. Das erste Laborergebnis zeigt schon desolate Gerinnungs-, Leber- und Nierenwerte. Lukas hatte keine Milz mehr. Bei Asplenie (fehlender oder nicht funktionsfähiger Milz) entfällt ein wichtiges Organ für die Infektabwehr, insbesondere bei einer Infektion mit bekapselten bakteriellen Erregern. Er starb an dem gefürchteten und mit bis zu 5% häufig auftretendem OPSI (Overwhelming Post Splenectomy Infection Syndrome – Sepsis infolge einer Milzentfernung).

Patienten – insbesondere Kinder – ohne (funktionierende) Milz sind Hochrisikogruppen und müssen besonders geschützt werden! Hier besteht Nachholbedarf auf Seiten der Ärzte, Aufklärung zu leisten.