Eine Sepsis tötete mein Baby – und dann beinahe auch mich.
Sandra Schenk hat schmerzlich erfahren müssen, dass noch immer über Blutvergiftungen zu wenig bekannt ist und auch Ärzte eine Sepsis nicht immer gleich auf dem Schirm haben. Die Geburt ihrer Drillinge verlief tragisch, ihre Tochter verstarb noch am gleichen Tag.
Wer an eine Blutvergiftung denkt, denkt meist zuerst an den roten Strich, der etwa von einer Verletzung am Finger ausgehen und den Arm aufwärts verlaufen kann. „Doch in Wirklichkeit ist das meistens ganz anders“, berichtet Sandra Schenk über das, was sie am eigenen Leib erleben musste. Denn bei der Geburt ihrer Drillinge hatte sie eine E-Coli-Sepsis, die junge Frau überlebte nur knapp. Das Erstgeborene ihrer drei Babys, ein kleines Mädchen, schaffte es nicht. Es sollte Noreia heißen, der Name ist keltisch und bedeutet so viel wie Mutter Natur. Die beiden Jungs, Leif (der Erbe) und Noah (der Ruhebringer), schafften es, kamen aber auf die Intensivstation und erholten sich erst später. Das Trauma bei den Eltern sitzt auch heute noch tief, fast sechs Jahre danach.
Endlich schwanger – und gleich drei gesunde Kinder
Dabei war anfangs alles so gut gegangen. Sandra und Alexander Schenk, damals um die 30 Jahre alt, hatten seit vielen Jahren versucht, ein Kind zu bekommen. Mit Hilfe von IVF, In-Vitro-Fertilisation, gelang es zwar fünfmal schwanger zu werden. „Doch es waren jedes Mal frühe Sternchenkinder, vor der zwölften Schwangerschaftswoche“, erzählt Sandra Schenk im Gespräch mit FOCUS-Online ganz offen.
Als dann 2016 die sechste Schwangerschaft Bestand hatte, waren Sandra und Alexander glücklich – die Untersuchungen zeigten drei gesunde Babys, ein Mädchen und zwei Jungen.
Bis zur 21. Schwangerschaftswoche verlief alles normal, dann verkürzte sich der Gebärmutterhals zu früh, was das Risiko einer Frühgeburt deutlich erhöht. Das sollte eine Cerclage, also eine Naht um den Gebärmutterhals, sowie ein spezielles Pessar verhindern. In der Woche 30 + 2, genauer am 4. August 2016, ging Sandra wieder in die Klinik, denn wie bei Mehrlingsgeburten häufig nötig, sollten die Babys geholt werden.
Fruchtblase platzt zu früh
Während der Eingangsuntersuchung bei der vaginalen Inspektion, platzte die Fruchtblase des kleinen Mädchens. „Sie lag ganz unten und war dann auch meine Erstgeborene“, berichtet die Mutter. Mit dem vorzeitigem Platzen der Fruchtblase stieg das Risiko für eine sogenannte neonatale Sepsis, also einer Blutvergiftung beim Neugeborenen, massiv.
Was nur wenig bekannt ist: Sie ist mit rund 18 Prozent bei Frühgeborenen bis zu 20-mal höher als bei anderen Neugeborenen. Insgesamt kommt es zu etwa 1000 Sepsisfällen pro 100.000 Geburten in Deutschland, wie die Sepsis–Stiftung berichtet.
Sandra Schenk wurde sofort stationär aufgenommen, bekam Magnesium, aber auch Antibiotika. „Ich hatte Wehen, die der Wehenschreiber jedoch nicht aufnahm, so etwas gibt es auch mal“, erklärt Sandra Schenk, die betont, auf keinen Fall über Klinik und Ärzte negativ sprechen zu wollen und sachlich bleibt. Mit einer Operation, um die Kinder zu holen, wurde noch gewartet, damit die Lungenreife der Babys abgeschlossen ist. Am übernächsten Tag ging es dem kleinen Mädchen aber so schlecht, dass sie Mekonium absetzte, also den ersten Stuhl („Kindspech“) – noch in der Gebärmutter. Sandra Schenk bekam Atemnot, Schüttelfrost, hohes Fieber, später extreme Schmerzen. Die Kaiserschnitt-Operation wäre für den nächsten Tag angesetzt gewesen, weil dann drei Teams zur Versorgung der drei Frühgeborenen zur Verfügung standen, erklärt Sandra die weitere Planung in der Klinik. Dabei ging es ihr immer schlechter.
Hohe Herzfrequenz, keine Kraft mehr für den Alarm
Ihr eigener Zustand, die extremen Schmerzen und Schwäche, wurde vielleicht nicht so ernst genommen, urteilt Sandra Schenk heute. Erst am nächsten Tag, nach einer schlimmen Nacht, wurde sie nochmals ans CTG angeschlossen. Wieder keine Wehen, die Herzfrequenz von Sandra war mit 130 viel zu hoch, beim kleinen Mädchen lag sie sogar bei 230.
Abends verschlechterte sich Sandras Zustand noch weiter. Inzwischen trat grüner Ausfluss auf. „Sandra hechelte nur noch“, berichtet Alexander, der während der ganzen Zeit nicht von ihrer Seite wich. Sandra hatte keine Kraft mehr zum Klingeln, ihr Mann alarmierte eine Schwester, die sofort im Kreißsaal anrief und Sandra als Notfall ankündigte. Trotzdem dauerte es noch eine halbe Stunde, bis eine Ärztin in den Kreißsaal kam. Jetzt wurde eine Not-Sectio eingeleitet, die Schwangere unter Vollnarkose gesetzt.
Doch die Operation kam zu spät – Noreia konnte nur noch tot entbunden werden. Die Reanimation brachte nichts mehr. Leif, der Zweitgeborene, musste ebenfalls reanimiert werden – glücklicherweise erfolgreich. Noah, der dritte, lebte. Beide Jungen mussten beatmet werden und wurden auf die Kinderintensivstation verlegt. Und Sandra Schenk? „Von all dem bekam ich vorerst nichts mit, ich wurde auf die Intensivstation verlegt, hatte eine Sepsis – Auslöser ein Amnioninfektionssyndrom, auch mit E Coli-Bakterien.“
15 Minuten mit der toten Tochter
Als sie auf der Intensivstation aufwachte, fühlte sie sich schrecklich – „ein Gefühl, das ich nicht einmal meinem schlimmsten Feind zumuten möchte“, beschreibt sie es. Zahlreiche Schläuche führten in ihren Körper. Dann kamen die Oberärztin und Alexander zu ihr und sagten ihr, dass ihre Tochter verstorben sei, die Jungen soweit stabil und auf der Kinderintensiv sind.
Weil Noreia sonst gleich in eine Kühlkammer gekommen wäre, entschied sich Alexander jetzt dazu, die Kleine seiner Frau zum Abschiednehmen zu bringen. Gemeinsam mit einer Schwester legte er die Kleine der Mutter in den Arm. „Wir hatten 15 Minuten“, so Sandra Schenk. Sie fühlte in diesem Moment nichts. Sie war abgestumpft, auch durch das hohe Fieber, konnte alles gar nicht richtig realisieren.
Anders als der Vater, der nach diesem Abschiednehmen mit der Kleinen auf dem Arm allein durch die halbe Klinik lief. Er brach hinterher zusammen, hat sich bis heute psychisch nicht erholt, ist arbeitsunfähig und vorerst berentet. Er leidet unter einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung. Im Rückblick sagt Sandra Schenk nach fast sechs Jahren: „Es lief einfach alles schief, was schief laufen konnte.“
Doch wie ging es nach der Intensivstation für Sandra Schenk weiter? Sie kam nach wenigen Stunden auf Normalstation, eine Woche später durfte sie nach Hause. Die Kinder wurden ebenfalls verlegt in eine Klinik in Dinslaken, in der Nähe des Heimatortes. „Dort wurden sie, aber auch mein Mann und ich sozusagen aufpäppelt – Ärzte und Schwestern dort haben uns sehr unterstützt, haben in uns wieder Zuversicht geweckt, meinen Mann auch psychologische Hilfe vermittelt“, so die Mutter. Trotzdem war es eine schwierige Zeit – Sandra war körperlich noch alles andere als fit, die seelische Belastung verdrängte sie. „Denn ich musste ja funktionieren, das war sehr schwer.“ Dabei gab es so viel zu tun – die Jungs täglich besuchen, eine Beziehung zu ihnen aufbauen, daneben die Beerdigung für Noreia organisieren.
Reha und endlich etwas Erleichterung
Weil die Eltern die genaue Todesursache der Kleinen wissen wollten, wurde sie in der Pathologie obduziert – ohne eindeutige Ergebnisse. Sandras Vater erstattete Anzeige wegen fahrlässiger Tötung und nun befasste sich die Gerichtsmedizin mit dem Fall. Erst nach der Freigabe des Leichnams fand die Beisetzung dann am 24. August statt.
Sechseinhalb Wochen nach der Geburt durften Leif und Noah dann auch nach Hause kommen. Richtig besser wurde es für die kleine Familie, nachdem sie 2017 auf einer psychosomatischen Reha waren – bei Alexander wegen der posttraumatischen Belastungsstörung, bei Sandra „nur“ wegen Depression. Erst in der Reha, als sie zum ersten Mal seit langer Zeit wieder zur Ruhe kam, brach auch Sandra zusammen – doch erhielt beste Hilfe.
Verfahren wegen fahrlässiger Tötung
Inzwischen lief das Verfahren wegen fahrlässiger Tötung weiter. Doch auch die Gerichtsmedizin konnte keine genaue Todesursache feststellen. „In der Klinik hatten sie mich ja im CTG-Zimmer eine halbe Stunde stehen lassen, obwohl ich als Notfall angekündigt worden war – mit den Worten der Schwester ‚die Patientin stirbt mir hier unter den Händen weg‘“, berichtet Sandra Schenk. War diese lange Wartezeit ausschlaggebend für den Tod von Noreia? Doch auch das ließ sich im Nachhinein nicht mehr ausreichend klären.
Die Geburtsklinik diagnostizierte eine Neugeborenen-Sepsis und multiples Organversagen. Das toxikologische Gutachten der Rechtsmedizin, so die Mutter, war nicht aussagekräftig, weil es viel zu spät kam, die Kleine lag ja vorher schon Tage in der Pathologie und im Kühlraum. Außerdem hatte die Klinik alle drei Plazenten entsorgt, die also nicht mehr untersucht werden konnten. Das Verfahren wurde eingestellt, weil es nicht klar rekonstruierbar sei, was in dieser halben Stunde passiert war.
Für die Eltern ist das alles aber noch lange nicht abgeschlossen. Vor allem das erste Jahr war noch sehr, sehr schwer für die jungen Eltern. Sandra war körperlich überhaupt nicht belastbar – „ich hatte mich während der Schwangerschaft sehr viel besser gefühlt als das Jahr hinterher.“ Ihrem Mann ging und geht es besonders schlecht – noch bis heute. Drei Jahre ist er noch befristet Frührentner, die Belastung, die er vor allem damals in der Klinik erfuhr, war zu viel für ihn – viele Details wurden hier gar nicht erwähnt.
Unterstützung findet Sandra auch durch Kontakte zu Hilfsangeboten wie der Sepsis-Stiftung, zu der sie über Facebook kam. Das Anliegen der Mutter und selbst Betroffenen ist, auf die Wichtigkeit und das Unwissen über Blutvergiftung aufmerksam zu machen. „Ich hoffe, dass die Allgemeinheit, aber auch Ärzte für dieses Thema sensibilisiert werden“, erklärt sie ihre Intention.
Sechs Jahre nach der traumatischen Geburt mit dem Tod der Tochter hat Sandra Schenk wieder Kraft gewonnen. Ihre Söhne sind gesund, werden 2022 eingeschult. Sie wissen, dass sie Drillinge waren, dass sie eine Schwester im Himmel haben. Sandra Schenk glaubt fest daran, „dass später, wenn einmal unsere Zeit gekommen ist, wir all unsere Liebsten wieder in den Arm nehmen können – auch Noreia.“
Das ist Sandras Geschichte, wie sie im Mai 2022 auf FOCUS Online erschienen ist.