Ilona - Sepsis und das Schweigen: Ein Schicksal, das noch immer zu viele teilen

Zweihundertzweiundzwanzig Tage vor meinem achtzehnten Geburtstag habe ich meinen Vater zum letzten Mal lebend gesehen.

Das weiß ich noch so genau, weil ich im Auto meiner Großeltern mit meinem Schulkalender ausgerechnet habe, wie lange es noch bis zur Volljährigkeit wäre. Ich wollte meinem Vater von der „Schnapszahl“ erzählen, aber als wir im Krankenhaus ankamen, hatte er daran überhaupt kein Interesse mehr. Auch sein geliebtes Eis, das wir ihm mitgebracht hatten, mochte er nicht mehr essen, so elend war ihm an diesem Tag, und wir machten uns Sorgen.

Am späteren Nachmittag bin ich noch ein zweites Mal mit meiner Mutter zum Krankenhaus gefahren, um nach meinem Vater zu sehen. Da hatte er schon recht hohes Fieber und Schmerzen und wollte nur noch schlafen. Richtig klar war er nicht mehr, aber das schoben wir auf das Fieber. Die Pflegekraft brachte ihm ein fiebersenkendes Schmerzmittel und sagte uns, dass jetzt kein Arzt mehr zu erreichen sei, aber man kümmere sich gleich am nächsten Morgen. Schließlich fuhren wir heim, um ihm den – wie wir dachten– heilsamen Schlaf zu ermöglichen.

Mitten in der Nacht, das erfuhren wir später beim Ausräumen seiner Sachen von seinem Bettnachbarn, war dann doch ein Arzt verfügbar und mein Vater wurde zu notfallmäßiger Diagnostik und Behandlung auf die Intensivstation gebracht. Am Morgen rief man meine Mutter an, sie solle dringend ins Krankenhaus kommen, und sie war noch rechtzeitig da, um meinem Vater beim Sterben die Hand zu halten. Er sei an Organversagen gestorben, sagte man uns. Das Wort „Sepsis“ fiel nicht. Erst viele Jahre später habe ich den Begriff „Sepsis“ im beruflichen Umfeld kennen gelernt. Mittlerweile weiß ich, dass es eine Sepsis war, an der mein Vater damals verstorben ist.

Heute bin ich schon älter als mein Vater jemals werden durfte. Noch immer, das weiß ich nun, erleiden viele Menschen in Deutschland und weltweit vermeidbar eine Sepsis. Und noch immer ist die Zahl der Todesfälle und schweren Langzeitfolgen  viel höher als unabwendbar wäre. Ein Hauptgrund dafür ist, dass recht wenige Menschen das Wort „Sepsis“ kennen und noch weniger erkennen kritische Symptome. Deshalb sind Kampagnen wie „Deutschland erkennt Sepsis“ so wichtig, weil Wissen über diese Erkrankung eine schnellere Diagnose und viel bessere Behandlungsmöglichkeiten und damit Überlebenschancen bedeutet. Und deshalb unterstütze ich ehrenamtlich die Sepsis-Stiftung bei ihrer wichtigen Aufgabe, das Wissen um Sepsis, ihre Vermeidung, frühere Erkennung und bessere Behandlung zu verbreiten.

Ilona